Reine und angewandte Mathematik

Innerhalb der Mathematik spricht man informell und etwas diffus von einem reinen und einem angewandten Zweig, wobei je nach Standpunkt auch etwas deutlicher gefärbte Einteilungen mitschwingen können: So werden Themen der reinen Mathematik von Angehörigen des angewandten Zweigs schon mal als lebensfern, abgedreht und unnötig eingestuft, während angewandte Fragestellungen aus der reinen Perspektive wegen eines geringeren Abstraktionsniveaus oder unpräzisen Begriffsbildungen auch als unmathematisch oder elementar gelten können.

Während solche pointierten Meinungen zum Teil auf die menschliche Eigenart zurückgehen, den eigenen Standpunkt aufwerten zu wollen, so stellt sich doch die Frage, ob sich die beiden Zweige objektiv in ihrer benutzen Arbeitsweise unterscheiden.

Oberflächlich betrachtet fällt zunächst auf, dass sich Arbeiten der angewandten Mathematik nicht nur um mathematische Begriffe drehen, sondern dass auch Konzepte und Begriffe der Anwendungswissenschaften und der Informatik vorkommen. Bevor nämlich in einer konkreten Problemstellung mit ihrer eigenen Begriffswelt mathematisch gearbeitet werden kann, muss ein geeignetes mathematisches Abbild geschaffen werden, in dem die problemrelevanten Objekte und ihre wechselseitigen Beziehungen durch mathematische Objekte und mathematische Relationen ersetzt werden. Diesen Übersetzungsprozess nennt man Modellierung.

Wird diese Modellierung sorgfältig durchgeführt, so kann im Anschluss mit den üblichen mathematischen Techniken und unter Verwendung der immer gleichen logischen Regeln auf eine Lösung hingearbeitet werden, d.h. hier gibt es keinen objektiven Unterschied in der Arbeitsweise zur reinen Mathematik. Bei einer schlampigen Modellierung, bleiben mathematische Eigenschaften dagegen zunächst unerwähnt und fallen später beim Argumentieren plötzlich vom Himmel, was in der Tat eine unmathematische Arbeitsweise ist. Ursache hierfür ist oft, dass außermathematische Begriffe wie mathematische Begriffe verwendet werden, obwohl keine präzisen Definitionen angegeben wurden.

Konzepte der Informatik kommen dann ins Spiel, wenn ein mathematisches Objekt in standardisierter Form dagestellt werden soll (z.B. eine Zahl in Dezimaldarstellung) und diese durch Anwendung vieler elementarer Operationen aus standardisierten Darstellungen der Problemdaten abgeleitet werden kann. Wegen der hohen Rechengeschwindigkeit ist der gesamte Prozess dann trotzdem in kurzer Zeit durchführbar. Der Nachweis, dass ein bestimmter Algorithmus die Darstellung des gewünschten Objekts liefert, kann prinzipiell mit den üblichen mathematischen Techniken und unter Verwendung der immer gleichen logischen Regeln geführt werden. Erst bei der Umsetzung des Prozesses in eine konkrete Programmiersprache auf einem realen Rechner, wird der reine mathematische Rahmen verlassen. Hier können sich durch Tippfehler oder kleinere im Kopf durchgeführte Umformungen, die wegen der benutzten Programmiersprache notwendig sind, schnell logische Fehler ergeben.

In der Lehre stellt man einen Unterschied auch auf den wöchentlichen Übungsblättern fest. So kann man in Vorlesungen des angewandten Zweigs Aufgabenstellungen der folgenden Form finden:

  • Implementieren Sie den Algorithmus und überprüfen Sie die Korrektheit anhand einiger Beispiele.
  • Welche Bahn durchläuft der Stein, wenn er horizontal aus einem mit 90 km/h fahrenden Zug geworfen wird?

Übertragen in die reine Mathematik, wären diese Aufgabenfragmente dagegen sehr ungewöhnlich:

  • Formulieren Sie den Sachverhalt als Satz und überprüfen Sie die Korrektheit anhand einiger Beispiele.
  • Lösen Sie die Gleichung in einer algebraischen Struktur ihrer Wahl (genaue Definition nicht notwendig).

Mit der Überzeugung, dass die mathematische Arbeitsweise unbestreitbare Vorteile hat, wenn es um Genauigkeit, Präzision und Unmissverständlichkeit geht, verfolgen wir mit dem Projekt $\mmath$ auch das Ziel, die Diskrepanz zwischen reiner und angewandter Mathematik dort zu verkleinern, wo ein Arbeiten mit rein mathematischen Regeln möglich ist. Dazu gehört die Formalisierung des Modellbegriffs und die automatische Erzeugung von Programmcode aus logisch geprüften mathematischen Texten.