Über's Schreiben schreiben

Beim Schreiben bringe ich Buchstaben in eine bestimmte Reihenfolge, die Sie beim Lesen in eine Sequenz von Lauten und somit in Sprache verwandeln (schauen Sie doch mal zurück, wie viele ei und en Gruppen Sie bereits als Zeichen für bestimmte Laute gedeutet haben).

Genauso sind bestimmte Lautkombinationen (Wörter) wieder Zeichen, die wir als Gegenstände in der Welt deuten. Im einfachsten Fall sind die Gegenstände dabei greifbar oder mit anderen Sinnen unmittelbar zu erfassen. Sie können aber auch abstrakter sein, wie zum Beispiel das oben benutzte Wort Reihenfolge.

Nun besteht der Sinn eines Textes normalerweise nicht darin, Gegenstände nur aufzulisten. Statt dessen will der Autor von ihm wahrgenommene Zusammenhänge zwischen Gegenständen mitteilen, d.h. er möchte Aussagen über Gegenstände machen. Dazu werden wieder Zeichen eingesetzt (in diesem Fall Sätze), die von den Lesern gedeutet werden können, weil es vereinbarte Deutungsregeln gibt (in diesem Fall grammatikalische Regeln).

Genau die gleichen Mechanismen treten auch in formalen mathematischen Sprachen auf, wobei die Sprachregeln viel überschaubarer und gleichzeitig deutlich präziser sind als in der Umgangssprache. Die Gegenstände, deren Eigenschaften und Zusammenhänge beschrieben werden sollen, nennt man hier mathematische Objekte. Sie werden oft mit einzelnen Symbolen bezeichnet wie $0,\pi$ oder $x$, aber auch mit Symbolketten wie $42,\sin$ oder $\text{Menge}$. Eine mathematische Aussage über Objekte hat dann zum Beispiel die Form $\sin(\pi)=0$, wobei der Bildungsprozess von Aussagen allgemein in Form von Kochrezepten angegeben wird. So verlangt das Rezept für Gleichheitsaussagen folgende Zutaten:

  • Zwei Zeichenketten $a,b$, die jeweils für ein Objekt stehen.

Die Zubereitung erfolgt dann so:

  • Notiere die Zeichenkette $a$ gefolgt vom Symbol $=$ und der Zeichenkette $b$, kurz $a=b$.

Auch wenn das Wort Gleichheitsaussage suggeriert, das hiermit etwas gesagt wird, so ist dies nur im übertragenen Sinne zu verstehen, da das Zeichen $=$ nicht auf eine eindeutige Lautkombination verweist. Mathematische Sprachen sind nämlich streng genommen nur zum Schreiben und nicht zum Sprechen konzipiert. Allerdings können wir in der Umgangssprache über mathematische Aussagen sprechen und dabei werden wir $a=b$ zum Beispiel mit $a$ ist gleich $b$ oder $a$ gleich $b$ oder auch $a$ und $b$ stimmen überein übersetzen.

Möchte man das Rezept nun anwenden, um eine konkrete Gleichheitsaussage zu kochen, so muss die Zubereitung mit Bezeichnern für mathematische Objekte anstelle von $a$ und $b$ durchgeführt werden (man nennt $a$ und $b$ im Rezept daher auch Platzhalter). Nimmt man also $\sin(\pi)$ für $a$ und $0$ für $b$, so ergibt sich die bereits erwähnte Aussage $\sin(\pi)=0$.

Tatsächlich muss das Kochrezept aber noch sorgfältiger formuliert werden, um Missverständnisse zu vermeiden. Wählt man nämlich $1=1$ für $a$ und $2=2$ für $b$ (wobei wir hier annehmen, dass Gleichheitsaussagen für eins der beiden Objekte mit Namen wahr bzw. falsch stehen), so ergibt sich mit $1=1=2=2$ die gleiche Zeichenkette wie im Fall $1$ für $a$ und $1=2=2$ für $b$. Eine bessere Zubereitungsregel ist daher:

  • Notiere $a$ in runden Klammern gefolgt vom Symbol $=$ und $b$ in runden Klammern, kurz $(a)=(b)$.

Das stimmt dann im Fall $(\sin(\pi))=(0)$ zwar nicht mit der gewohnten Schreibweise überein (obwohl es immer noch lesbar ist), klärt aber das Missverständnis im zweiten Beispiel, da nun $((1)=(1))=((2)=(2))$ und $(1)=(((1)=(2))=(2))$ gut zu unterscheiden sind. Natürlich kann man (auf Kosten einer längeren Regel) die Anzahl der Klammern auch auf das bekannte Normalmaß reduzieren.

In ähnlicher Weise gibt es Kochrezepte zum Aufbau von Elementaussagen $a\in M$ der Mengenlehre, von Aussagenverknüpfungen mit den Symbolen $\wedge,\vee,\Rightarrow,\Leftrightarrow,\neg$, sowie von Quantoraussagen basierend auf den Symbolen $\forall$ und $\exists$. Alle anderen Aussagen der üblichen mathematischen Sprache können damit zusammengekocht werden.

Dass mathematische Aussagen auf einen Zusammenhang zwischen mathematischen Objekten hindeuten (und damit etwas bedeuten), ist eine Konsequenz der sogenannten Schlussregeln. Die Grundidee ist dabei, dass jeder Aussagetyp nur unter bestimmten Bedingungen an seine Bestandteile gilt, während umgekehrt eine geltende Aussage garantiert, dass die Bestandteile entsprechenden Bedingungen gehorchen. Um loszulegen, benötigt man in einer mathematischen Theorie einem Satz an unbegründet geltenden Anfangsaussagen (den Axiomen). Alle weiteren Aussagen ergeben sich dann allein durch die vereinbarten Schlussregeln.

Schaut man sich nun mathematische Texte an, so wird man die Konsequenzen der Kochrezepte und Schlussregeln an den immer wieder auftretenden Aussagemustern und den damit beschriebenen Objektmustern erkennen. Genauso enthält die Umgangssprache Muster, die das menschliche Gehirn beim Lernen der Muttersprache erfasst und zur Deutung mit entsprechenden Gegenstandsmustern in Zusammenhang bringt. Die grammatikalischen Regeln entstehen dann durch den nachträglichen Versuch, die Sprachmuster durch dahinter liegende Regeln zu erklären (genauso wie man in den Naturwissenschaften versucht, Muster zwischen Gegenständen durch Naturgesetze zu erklären).

An dieser Stelle kann man gut erkennen, wie sich die Mathematik von anderen Disziplinen unterscheidet: Während in den meisten Wissenschaften Muster studiert werden, deren erzeugende Regeln nicht bekannt sind, geht man in der Mathematik von den Erzeugungsregeln aus und studiert, welche Muster daraus resultieren. Klar, dass Mathematik dann in vielen anderen Bereichen nützlich ist: Immer wenn man glaubt ein beobachtetes Muster durch eine Regel erklären zu können, kann man die Regel als Ausgangspunkt einer mathematischen Untersuchung machen und die entstehenden Muster mit den beobachteten vergleichen. Gibt es eine gute Übereinstimmung, so wird die Regelhypothese gestützt, ist die Übereinstimmung schlecht, wird die Hypothese verworfen.