Was ist der Grund dafür, dass Jahr für Jahr überdurchschnittlich viele Studierende das Mathematikstudium bereits nach kurzer Zeit frustriert wieder aufgeben? Was genau macht den Übergang von der Schul- zur Hochschulmathematik so schwierig? Liegt es an den komplizierten Inhalten, oder doch eher an der Form der Vermittlung?
Die Erfahrung nach vielen Gesprächen mit Schülern und Studierenden, der Begleitung mehrerer Anfängerjahrgänge, der Durchführung spezieller Lehrveranstaltungen zu den Anfangsschwierigkeiten und der routinemäßigen Durchsicht von vielen Übungsblättern, Klausuren und Hausarbeiten führt zu folgender Einschätzung: Der größte Stolperstein ist nicht das inhaltliche Verständnis der mathematischen Konzepte und Zusammenhänge sondern das formale Vorgehen in der Mathematik. Es fehlt nicht das intuitive Verständnis dafür, dass zum Beispiel konvergente Folgen beschränkt sind, sondern die Fähigkeit, die Begründung mathematisch korrekt aufzuschreiben.
Sehr eng verknüpft und vielleicht sogar ursächlich dafür ist die Schwierigkeit, mathematische Begründungen korrekt zu lesen und zu interpretieren, was an der oft gestellten Anfängerfrage Ist mein Beweis so richtig? und an den vielen falschen Antworten zu Übungsaufgaben besonders deutlich wird. Dass die Studierenden die Fehler in ihren Lösungen nicht bereits selbst anstreichen, ist tatsächlich der offensichtlichste Indikator dafür, dass das Überprüfen der Korrektheit von Argumentationen nicht beherrscht wird.
Diese Feststellung ist deshalb dramatisch, weil die Überprüfung der Korrektheit so präzise reglementiert ist, dass sie sogar von Maschinen automatisch durchgeführt werden kann! Es handelt sich hier wahrscheinlich um den einzigen Aspekt des Mathematikmachens, der stur erlernbar ist.
Im Gegensatz dazu ist das Finden von Begründungen wesentlich schwieriger, da ein automatisches Abklappern aller möglichen Argumentationsschritte kombinatorisch nicht zu bewältigen ist. Hier sind Vorahnung bzw. Intuition erforderlich, was wiederum Problemverständnis und Erfahrung voraussetzt, also Dinge, die heutige Maschinen nicht leisten können.
Dieser kreative Aspekt der Mathematik ist dabei der eigentliche Spaßfaktor, während der sture Aspekt des Regelbeachtens eher lästig erscheint. Da am Ende die Argumentation aber in der vorgeschriebenen Weise formuliert werden muss, sind die beiden Aspekte Finden und Überprüfen doch aufs Engste miteinander verflochten: Es sind die restriktiven Regeln, die das Finden einer Argumentation erschweren und genau das Bewältigen dieser Schwierigkeiten führt zu dem euphorischen Gefühl, dass sich beim erfolgreichen Abschluss einer Argumentationskette einstellt. Es ist das korrekte Ineinandergreifen der immer gleichen (und relativ wenigen) Regeln, die uns bei einer längeren Argumentationskette ins Staunen versetzen können und Bewunderung abverlangen.
Hat man die Bedeutung der Überprüfungskompetenz (d.h. der Fähigkeit eine mathematische Argumentation auf Korrektheit zu überprüfen) erkannt, stellt sich die Frage, wie man diese Kompetenz am besten vermittelt. In den meisten Grundvorlesungen geschieht dies dadurch, dass das Benutzen der Regeln immer wieder vorgeführt wird, während die jeweiligen Inhalte der mathematischen Theorien entwickelt werden. Durch Abgabe eigener mathematischer Texte und den dazu erhaltenen Korrekturanmerkungen und Fehlerdiskussionen, kann dann bei den Studierenden sukkzessive ein Gefühl und Verständnis für Korrektheit aufgebaut werden. Eine direkte Auflistung der Überprüfungsregeln (also eine Art Gebrauchsanleitung) erhalten die Studierenden allerdings nicht, was auch daran liegt, dass eine für Anfänger geeignete und universell anerkannte Gebrauchsanleitung gar nicht im Umlauf ist.
Nun weiß jeder aus eigener Erfahrung, dass zum Erlernen eines Gesellschaftsspiels nicht unbedingt die trockenen Spielregeln durchgeackert werden müssen, wenn man jemanden vor Ort hat, der das Spiel bereits gut spielen kann. Dann fängt man nach einer kurzen Erklärung des Spielziels einfach mal an und bei jeder Unklarheit greift der Spezialist ein und gibt die benötigte oder verletzte Regel bekannt. Das Regelheft ist damit nur für das Selbststudium nötig.
Auf den ersten Blick scheint dieses Prinzip auch in der universitären Mathematikausbildung angewendet zu werden, aber der direkte Vergleich hinkt: Der Lösungsversuch zu einer Übungsaufgabe entspricht einer ganzen Partie, die ohne Überwachung durch Spezialisten gespielt wurde. Aufgrund von Bearbeitungs- und Korrekturzeiten gibt es eine Rückmeldung typischerweise erst eine Woche nach dem Spiel, so dass die Studierenden ihre eigenen Gedankengänge oft gar nicht mehr klar in Erinnerung haben. Hinzu kommt, dass sich beim freien Spiel Fehler auf Fehler stapeln, wodurch Spielzustände entstehen, die prinzipiell gar nicht auftreten können. An Folgefehlern lassen sich verletzte Regeln aber oft gar nicht mehr verdeutlichen, sodass die Korrekturanmerkung nur noch aus einem roten f am Rand oder der Notiz geht so nicht besteht. In Analogie: Wie soll man erklären, dass im Schachspiel ein Turm, auf dem ein Bauer steht, nicht diagonal ziehen kann? Hierzu gibt es gar keine Regel, weil Bauern gar nicht erst auf Türme gestellt werden dürfen!
Da die Lernenden also nicht in jedem ihrer Spielzüge überwacht werden, wird das Bewusstsein für die Spielzüge und ihre Regeln auch nur entsprechend langsam und indirekt ausgebildet. Da eine ständige individuelle Betreuung durch Spezialisten aber unbezahlbar ist, läuft das Studium an dieser Stelle doch auf ein Selbststudium und damit eigentlich auf die Verfügbarkeit eines Regelhefts hinaus.
Im Projekt $\mmath$ wird versucht, die Regeln so zu formulieren, dass sie problemlos von Anfängern verstanden werden können. Zur Überprüfung der Tragfähigkeit des resultierenden Regelsystems, wird es zusätzlich als eine Art Programmiersprache umgesetzt. Ob solch ein Programm, dass jeden mathematischen Schritt des Benutzers kontrolliert und bei einem Fehler erst weiter liest, wenn dieser beseitigt ist, zur Vermittlung der Spielregeln nützlich ist, wird sich noch zeigen. Auf jeden Fall lässt sich damit gut illustrieren, dass die Formulierung von mathematischen Objekten sehr geregelt abläuft und dass eine Maschine mathematische Argumentationen auf Korrektheit überprüfen kann, indem sie stur gewisse Regeln befolgt. Für uns Menschen ist das allerdings nur ein Hinweis, dass wir das Lesen und Überprüfen mathematischer Texte prinzipiell auch schaffen können. Die Fähigkeit, vorgegebene Regeln wie eine Maschine zu befolgen, ist eine Kompetenz, die vom Menschen erst mühsam erlernt werden muss.