Wer mag Textaufgaben?

Fragt man in einer Schulklasse, wer lieber Textaufgaben als Rechenaufgaben mag, so meldet sich meist nur eine kleine Minderheit. Als Grund findet man schnell heraus, dass bei Rechenaufgaben das generelle Vorgehen und die zugehörigen Regeln klar sind, während dies bei Textaufgaben nicht der Fall ist. Diese Unklarheit erzeugt Gefühle von Unsicherheit bis hin zur Angst.

Damit das nicht passiert, muss auch für den Umgang mit Textaufgaben ein systematisches Vorgehen mit zugehörigen Regeln trainiert werden. Wichtig ist, dass Textaufgaben vor dem mathematischen Lösungsschritt einen separaten Modellierungsschritt benötigen.

Unter mathematischer Modellierung versteht man dabei den Prozess, einen nicht-mathematischen Sachverhalt mit mathematischen Objekten wie Zahlen, Funktionen, Gleichungen usw. zu beschreiben. Modellierung ist also eine Übersetzungstätigkeit, bei der konkrete Fragestellungen aus unserer Lebensumwelt in mathematische Problemstellungen überführt werden. Die beiden entscheidenden Schritte bei der Aufstellung eines Modells sind:

  • Benennen der relevanten Objekte und Begriffe
  • Formulierung der relevanten Beziehungen zwischen diesen Objekten und Begriffen

Ein Ziel des Projekts $\mmath$ besteht darin, die Formulierung und elegante Nutzung mathematischer Modelle durch geeignete Sprachkonstrukte in mathematischen Texten zu ermöglichen. Dabei ordnen sich bekannte mathematische Strukturen wie Gruppe, Körper, Vektorraum, normierter Raum usw. nahtlos in den Modellformalismus ein.

In Anlehnung an die oben genannten Schritte, besteht ein $\mmath$ Modell aus einer Liste von Namen für mathematische Objekte und aus einer Liste mathematischer Aussagen, die die Objekte miteinander und mit bereits vorhandenen Objekten in Beziehung setzt. Da für Modellfolgerungen nur die aufgelisteten Aussagen als Voraussetzungen zur Verfügung stehen, entsteht die Bedeutung der Modellobjekte allein aus den formulierten Beziehungen und nicht etwa aus den Assoziationen, die ihre Namen sonst noch hervorrufen. In der Auswahl der mathematischen Objekte und ihrer Beziehungen manifestiert sich damit der für die Modellierung typische Abstraktionsprozess.

Ob ein Modell im Hinblick auf eine bestimmte Fragestellung gut ist, hängt nun von zwei verschiedenen Faktoren ab:

  • Die formulierten mathematischen Beziehungen stehen in klarem Zusammenhang zur Problembeschreibung.
  • Die Fragestellung kann innerhalb des Modells beantwortet werden.

Eine Verletzung des ersten Punkts entspricht dabei der fehlerhaften Übersetzung einer Frage in eine andere Sprache. Es ist klar, dass von der zurückübersetzten Antwort nicht viel zu erwarten ist. Die wesentliche Schwierigkeit beim Lösen von Textaufgaben steckt aber eher im zweiten Punkt, weil hier die Modellbildung und die Lösung im gebildeten Modell miteinander verzahnt werden.

Prinzipiell knackt man solche Verzahnungen durch die Methode Versuch und Irrtum (trial and error): Man stellt ein Modell auf und versucht die Fragestellung zu beantworten. Klappt es nicht, weil zum Beispiel gewisse Beziehungen fehlen, so versucht man diese in der Problemstellung zu finden, stellt dann ein neues Modell auf und versucht wieder zu lösen. Findet man im Zuge dieses iterativen Verfahrens Objekte oder Beziehungen, die zur Problemlösung gar nicht beitragen, so kann man sie streichen und so am Ende ein Modell erhalten, dass die Problemsituation im Hinblick auf die Fragestellung zielgerichtet abstrahiert: Das Modell ist so einfach wie möglich und so kompliziert wie nötig.

Zwar kann bei guter Intuition, oder nach dem Trainieren von Textaufgaben des immer gleichen Typs, dieser Prozess vollständig und schnell im Kopf ablaufen, aber was passiert, wenn die Fragestellung die Intuition übersteigt oder nicht zu einem trainierten Typ passt? Um auch auf solche Situationen vorbereitet zu sein, ist eine Kenntnis des prinzipiellen Vorgehens beim mathematischen Arbeiten mit den iterierten Modellierungs- und Lösungsschritten entscheidend!

Ob die Modellierung als separater Schritt beim Lösen von Textaufgaben auch in der Schule betont und trainiert wird, kann man leicht am jeweils benutzten Lösungsschema erkennen. Hat es die Form: (1) Frage, (2) Rechnung, (3) Antwort, so fehlt die Modellierung und die Schüler werden mit der Bewältigung mehrerer konzeptionell wichtiger Schritte alleine gelassen (darüberhinaus erhält die Lehrperson die prinzipiell unmögliche Aufgabe, aus einer Rechnung auf das benutzte Modell zurückzuschließen). Zielführender für alle Beteiligten ist dagegen das Schema: (1) Modellierung der Situation, (2) Rechnungsversuch, (3) Antwort oder zurück zu (1).