Verstehst Du?

Beim Thema Verstehen erinnere ich mich gerne an eine Physikvorlesung in Kaiserslautern, wo Professor Wolfgang Demtröder nebenbei Folgendes erklärte: Verstehen heißt neues Unverstandenes auf altes Unverstandenes zurückzuführen.

Das klingt im ersten Moment lustig, weil es nicht zu dem Gefühl von Sicherheit und Kontrolle passt, das mit dem Gefühl des Verstehens einhergeht: Wenn man einen Sachverhalt versteht, kann man mit ihm kontrolliert umgehen, man kennt die zugehörigen Ursache-Wirkung-Beziehungen, kann sie zielgerichtet einsetzen und erklären.

Schaut man aber etwas genauer hin und hinterfragt die Gefühle, so stellt sich die Situation ganz anders dar: Die empfundene Sicherheit beim Verstehen ist nur relativ zu einem Rahmen an Vorwissen, das bei kritischem Hinterfragen schnell löchrig werden kann, wobei dann auch die gefühlte Sicherheit rasch abnimmt.

Etwas günstiger sieht es beim mathematischen Verstehen aus, weil es hier eine Ebene gibt, die so in keiner anderen Disziplin zu finden ist. Sie ergibt sich daraus, dass die Begriffe der mathematischen Sprache unmissverständlich definiert sind und jeder neue Sachverhalt nach klar vereinbarten Schlussregeln begründet wird. Insbesondere lässt sich Unverstandenens in nahezu mechanischer Form auf bereits begründete Sachverhalte zurückführen, wobei in diesem Prozess alle Ursachen für das Gelten offengelegt werden. Hinterfragt man in gleicher Weise auch die bereits bekannten Sachverhalte, so endet man irgendwann bei wenigen Aussagen, für die es keine Begründungen mehr gibt, den sogenannten Axiomen der Theorie.

Wir sehen damit, dass selbst der elementare Verstehensprozess in der Mathematik keine absolute Sicherheit vermitteln kann, sondern immer relativ zum Ausgangsrahmen der Theorie und zu den benutzten Regeln des Mathematikmachens bleibt. Innermathematisch muss man diese Ausgangsregeln als altes Unverstandenes betrachten, weil sie sich dem mathematischen Begründungsschema entziehen, aber zumindest ist dieses Unverstandene klar lokalisiert und auf ein Minimum reduziert.

Neben der elementaren Ebene des Verstehens durch Nachvollziehen von Beweisen gibt es in der Mathematik natürlich auch Verstehensebenen, die sich wie in jeder Disziplin erst durch eigene praktische Erfahrungen mit den jeweiligen Konzepten und den damit verbundenen Anwendungsmöglichkeiten erschließen und sich folglich nur langsam entwickeln.

Fatal ist in diesem Zusammenhang, dass das Verstehen mathematischer Konzepte in der Schule durch Rückführung auf alte unverstandene Alltagskonzepte erzeugt wird und die besondere elementare Verstehensebene der Mathematik dabei umgangen wird. Wer mit solchen Verstehensstrategien in die Hochschulmathematik wechselt, wird schon beim Umgang mit dem Begriff des Supremums in den ersten Vorlesungswochen ins Schleudern geraten (was sich regelmäßig beobachten lässt). Andere Verstehensfallen in der ersten Wochen sind die komplexen Zahlen, unendliche Reihen, Funktionsgrenzwerte usw.

Wer dann das Studium schon an Weihnachten mit der Aussage ich verstehe das alles nicht abbricht, hat vielleicht nur nach der falschen Form des Verstehens gesucht und dabei versucht, neue Konzepte unmittelbar auf unverstandene Alltagskonzepte zurückzuführen, um die dort bereits vorliegenden Erfahrungen anzuzapfen. Richtig wäre statt dessen, sich zunächst mit dem Verstehen durch stures geregeltes Rückführen auf mathematisch Verstandenes zufrieden zu geben und Erfahrung durch Üben innerhalb des mathematischen Regelwerks neu zu sammeln.

Den reichen Schatz der Alltagskonzepte und Erfahrungen wird man dabei natürlich nicht ausblenden, sondern nutzen, um Ideen und Lösungsansätze zu entwickeln. Alltagskonzepte sollten aber in der Mathematik nicht als primäre Verstehensgrundlage dienen, sondern statt dessen durch ein tieferes mathematischen Verstehen neu bewertet und geformt werden.

Bleibt die Frage, wie das Ausbildungssystem mit dieser Problematik umzugehen hat ...